12. März 2025. Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen syrischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Machthabers Baschar al-Assad sollen Berichten zufolge nahezu 1.000 Zivilist*innen getötet worden sein. Darunter befinden sich viele Angehörige der alawitischen Minderheit. Amnesty International fordert, dass die Zivilbevölkerung von der syrischen Regierung geschützt wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Das Ausmaß der Gewalt ist erschütternd. Im Nordwesten Syrien kam es in der vergangenen Woche zu heftigen Gefechten zwischen syrischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Machthabers Baschar al-Assad. Assad-treue Männer griffen dabei die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte in der syrischen Küstenstadt Latakia an. Regierungsnahe Einheiten und Milizen gingen zum Gegenangriff über, woraufhin es Berichten zufolge zu einer Reihe von Angriffen in verschiedenen umliegenden Gebieten kam. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete später, dass dabei mehr als 973 Zivilist*innen getötet wurden – die meisten von ihnen Alawit*innen.
Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika, verurteilte die Gewalttaten und fordert Konsequenzen: “Die Behörden müssen rasch handeln, um sicherzustellen, dass die Zivilbevölkerung in laufenden oder künftigen Kämpfen geschützt wird. Sie müssen weitere rechtswidrige Tötungen und andere Menschenrechtsverletzungen verhindern. Wenn jetzt nicht entschlossen gehandelt wird – das heißt, unabhängige, unparteiische und wirksame Ermittlungen durchzuführen und die Täter vor Gericht zu bringen – wird das diejenigen ermutigen, die glauben, sie könnten ungestraft töten.”
November 2024: Das Ende der Assad-Herrschaft
Die Familie Assad, die Syrien jahrzehntelang regierte, gehört der alawitischen Minderheit an. Der Sturz des langjährigen Machthabers, der für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an der syrischen Bevölkerung verantwortlich ist, begann im November 2024: Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), ein Zusammenschluss verschiedener islamistischen Milizen, sowie verbündete bewaffnete Oppositionsgruppen starteten eine Militäroffensive, die zur Einnahme des Gouvernements Aleppo führte. Am 8. Dezember 2024 nahmen die bewaffneten Oppositionsgruppen Damaskus ein und der damalige Präsident Baschar al-Assad floh aus dem Land.
Am 29. Januar 2025 ernannte das Syrische Militärische Operationskommando den ehemaligen HTS-Anführer Ahmad al-Sharaa zum Übergangspräsidenten. Am selben Tag kündigten die Übergangsbehörden an, dass alle militärischen Gruppierungen aufgelöst und in die staatlichen Institutionen integriert werden würden.
Heba Morayef appelliert an die Verantwortung der neuen syrischen Regierung: “Zusätzlich zu ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht ist die syrische Regierung auch verpflichtet, die Menschenrechte aller in Syrien lebenden Menschen zu wahren. Die Behörden müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um sicherstellen, dass keine Person oder Gruppe wegen ihrer ethnischen oder vermeintlichen politischen Zugehörigkeit diskriminiert, angegriffen oder sogar getötet wird
Die schrecklichen Bilder der Leichen auf den Straßen und der Angehörigen, die um ihre Liebsten trauern, sind eine düstere Erinnerung an die Grausamkeiten, die Syrer*innen in der Vergangenheit erlitten haben. Sie bergen die Gefahr, religiöse Spannungen zu schüren und weitere tödliche Gewalt zu entfachen. Die Menschen in Syrien verdienen eine Zukunft, die auf Gerechtigkeit und Würde beruht.
Eine transparente und unabhängige Untersuchung ist notwendig
Die Regierung hat zwar einen unabhängigen Untersuchungsausschuss angekündigt und zugesagt, die für die Verbrechen verantwortlichen Personen der Justiz zu überstellen. Doch ist es entscheidend, dass dieser Prozess transparent ist und im Einklang mit internationalen Standards durchgeführt wird. Der Untersuchungsausschuss hat den Auftrag, der Regierung innerhalb von 30 Tagen einen Bericht vorzulegen, doch diese Ergebnisse müssen auch veröffentlicht werden. Denn ohne Transparenz haben die Opfer und die breite Öffentlichkeit keinen Grund, darauf zu vertrauen, dass die Ermittlungen glaubwürdig und sorgfältig durchgeführt wurden.
Das Versprechen von Präsident Ahmad al-Sharaa, die Täter ‘mit aller Entschlossenheit und ohne Nachsicht’ zur Rechenschaft zu ziehen, bleibt leer, wenn die Justiz die Opfer nicht einbindet, nicht auf die Menschenrechte achtet und parteiisch ist – unabhängig davon, wer verantwortlich ist.
Zusätzlich zu den von der Regierung geleiteten Ermittlungen sollten die Behörden unabhängigen nationalen und internationalen Ermittlungsteams Zugang zu Syrien gewähren, damit sie eigene Untersuchungen durchführen können. Auch in den Küstengebieten.
Diese schrecklichen Ereignisse unterstreichen einmal mehr die Dringlichkeit umfassender Maßnahmen seitens der syrischen Behörden, um Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für alle Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu gewährleisten.”
(Dieser Bericht erschien am 12.03.2025 auf amnesty.de hier)
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Original version in English (published by amnestyinternational.org on March 10, 2025 here)
Syria: Horrific killings of civilians on northwest coast must be investigated
Amnesty responded to reports of hundreds of civilians, mostly from the Alawite minority, being killed in Syria’s coastal areas. Amnesty International Regional Director Heba Morayef said: “The authorities must act swiftly to ensure that civilians are protected in any ongoing or future fighting and to prevent further unlawful killings and other violations. The failure to act decisively and conduct independent, impartial and effective investigations and ensure perpetrators of crimes are brought to justice will only embolden those who believe they can kill with impunity.
“In addition to its obligations under international humanitarian law, the government of Syria has an obligation to uphold the human rights of all those living in Syria. The authorities must take clear action to strictly uphold the equal rights of all Syrians, including by ensuring that no person or group is targeted on the basis of perceived political affiliation.
“The horrific images emerging from Syria’s coast, with bodies lying in the streets and grieving families mourning their loved ones, are a grim reminder of the past cycles of atrocities Syrians have endured and risk inflaming sectarian tensions and fuelling further deadly violence. Syrians deserve a future rooted in justice and dignity, yet communities once again are being forced to endure unimaginable loss.
“While the government has announced an independent fact-finding and investigation committee and pledged to refer those responsible for crimes to the judiciary, it is crucial that this process is fully transparent and conducted in line with international standards. The committee has been tasked with submitting a report to the Presidency within 30 days, but these findings must also be made public. Without openness, victims and the wider public will have no reason to trust investigations were conducted credibly and carefully.
“President Ahmad al-Sharaa’s pledge to hold perpetrators of crimes accountable ‘with all firmness and without leniency’ will mean little if justice is not delivered in a manner that prioritizes victims’ participation, upholds people’s rights, and is delivered impartially, regardless of who is responsible.
“In addition to the government-led investigation, the authorities should grant independent national and international investigators access to Syria, including to Syria’s coastal areas, so that they can conduct their own fact-finding work.
“These horrific events once again underscore the urgent need for comprehensive steps by Syrian authorities to ensure truth, justice and reparation for all victims of grave violations in Syria. Ultimately, the delivery of truth, justice and reparation is meant to both remedy harms caused to victims and to ensure that never again really means never again.”
Background:
The Assad family, which ruled Syria for decades, is from the Alawite minority. In November 2024, Hay’at Tahrir al- Sham (HTS) and allied armed opposition groups launched a military offensive which led to the capture of Aleppo governorate. By 8 December, the armed opposition groups captured Damascus and President Bashar al Assad fled the country.
On 29 January 2025, the Syria Military Operation Command appointed former head of HTS, Ahmad al-Sharaa, to serve as head of state during the transitional period. That same day, transitional authorities announced that all military factions would be dissolved and integrated into state institutions.
On 6 March 2025, armed men loyal to the former Assad government launched an attack on Syrian state security forces in Latakia. In response, Syrian authorities, supported by pro-government militias, counterattacked.
This then escalated into a series of attacks across multiple governorates, according to local sources. By 10 March, the Syrian Observatory for Human Rights reported that more than 973 civilians, most of whom were Alawites, had been killed.
International humanitarian law applies to all warring parties engaged in the conflict in Syria. The government of Syria, now headed by Ahmad al-Sharaa, also has international human rights law obligations to all people living in Syria.